Die Porträtkunst hat mich schon immer fasziniert: Mir geht es darum, zu erforschen, was sich hinter einem Gesicht, insbesondere hinter den Augen verbirgt, denn sie sind das Eingangstor zur menschlichen Seele. Ich finde es spannend, in den Menschen hineinzuschauen, die Form seines Gesichts zu beschreiben, Falten und kleine Makel aufzudecken. Die Malerei vermag das auszudrücken, was nicht immer in Worte gefasst werden kann. Porträtmalerei ist für mich die Möglichkeit, in die Seele der Porträtierten hinein zu schauen und eine Einladung an den Betrachter mit der gemalten Seele in Kontakt zu treten, um selbst zu entschlüsseln, was sie ihm zu sagen hat.
Und wenn sie hinzufügt : « Ich zeichne keine Figuren, sondern Seelen », liefert sie dem Betrachter einen Schlüssel – ihren Schlüssel – zur Interpretation ihrer Werke. Deshalb verwundert es einen auch nicht, zu erfahren, dass sie eine Schülerin von Robby Hoffmann war, der es als Maler schaffte, sogar monochrome Gemälde empfindsam zu machen.
Die Portraits, die sie zeichnet – man könnte auch sagen, dass sie sie malt – sind Gesichter, aber auch Körper. Vergeblich sucht man darin die formale Schönheit eines klassischen Portraits, das spontan Autorität oder Charme, Trübsal oder Freude ausstrahlt. Die Künstlerin bedient sich verschiedener Mittel, die einander ergänzen: Die Tusche wird zur Lavur, stößt auf Ölkreide; manchmal gesellt sich auch Gouache dazu, während die Holzkohle Volumen und Bewegung in die Akte bringt. Die Abstraktion entsteht aus der Mischtechnik.
Zentrales Element im Gesicht ist der Blick. Das Augenweiß sprüht aus der dunklen Augenbraue hervor. Die Augen, Spiegelbild der Seele, durchdringen dieses Dunkel, beleben ein behutsam angedeutetes Angesicht und werfen den Besucher auf sich selbst, auf seine eigenen Fragen zurück. Der ungreifbare Blick versinnbildlicht die Unsichtbarkeit von Gedanken, den Abstieg in das innerste Geheimnis des Menschen, das den Betrachter mustert, während er es zu erforschen versucht. Für ihre Portraits greift Claudine Mertens aktuelle Zeitzeugnisse auf oder lässt ihrer Phantasie freien Lauf: Ihre Bilder sind das Ergebnis einer inneren Betrachtung, die spontan hervorsprudelt, wenn sie gestärkt durch einen unsichtbaren, aber kreativen Lebenssaft gereift ist – so wie sich eine Knospe im Frühling öffnet.
Albert Moxhet Mai 2018
Albert Moxhet ist Dozent für Philosophie und Literatur an der Uni Lüttich (Belgien), Schriftsteller, Chronist, Vortragsredner und Kunstkritiker.
Ihre auf den ersten Blick schlichten Bilder sind äußerst vielschichtig und aufwendig.
Geneviève Babe, Künstlerin, Kunstberaterin beim „Mérite Artistique Européen“.
Mit großer Hingabe und viel Intensität erforscht sie menschliche Gesichter und Körper – und Hundegesichter. Diese bringt sie mit Tinte, Kohle, Fineliner oder Ölkreide und zügigem Strich auf das Papier, meist in einer reduzierten Farbigkeit. Gerne verwendet sie eine zarte, oft zittrige Linienführung. Diese Linie weicht auch manches Mal von der genauen Konturierung des Gesichts ab und scheint willkürliche Wege zu gehen. Dadurch wird deutlich, dass es Claudine Mertens nicht um das physiognomisch korrekte Abbild einer Person geht, sondern um die Darstellung prägnanter Merkmale. Dies sind keine Porträts von individuellen Menschen, sondern zeitlose Charakterköpfe. … / …
Eine klassische Schönheit sucht man allerdings vergebens, die interessiert die Künstlerin nicht. Ihr geht es vielmehr darum, wie sich das Innere im Äußeren widerspiegelt. Seelische Zustände werden in diesem Äußeren sichtbar – gleichwohl ohne, dass sich eine allgemeingültige Interpretation ablesen ließe. Vielmehr dienen die Gesichter und Körper als Projektionsfläche für eigene Empfindungen. Der Betrachtende mag Merkmale finden, die ihm bekannt oder gar vertraut vorkommen, vielleicht sieht man auch etwas von sich selbst darin. Claudine Mertens verleiht ihren Dargestellten so wenig individuelle Züge wie nötig und so viel Gemüts- oder Seelenzustände wie möglich. Was sie zum Ausdruck bringen möchte und wofür sie unseren Blick schärfen möchte, ist immer das Menschliche an sich.
Alexandra Simon-Tönges, Kunsthistorikerin